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K.DAMAR WIELICZKA

1.5.2002 --- 16.11.2002 --- März 2003 --- 26.10.1981

 

Täglich schreibe ich ein paar Zeilen, kein Tagebuch, eher Beobachtungen, Gedanken, Zitate, Gespräche mit den Nachbarn, und - ziemlich oft - irgendeine Erinnerung. Vor fast einem Jahr, am 1.Mai 2002 notierte ich:
Ich erinnere mich gut, sogar mehr: ich sehe es und fühle, wie Jakub und ich zum Bus gehen, weil wir schon müde von unseren Spaziergängen in Umgebung sind, und fahren nach Wieliczka.* Und ich sehe, wie wir auf dem Marktplatz aussteigen, uns an die Hände fassen, beim Bus bleiben und herum gucken, in welche Richtung wir gehen sollen. Kein Markt wird abgehalten, es gibt keine Frauen, keine Kinder, nur Männer, Pferde, Fuhrwerke, und plötzlich sind wir wie versteinert, und ich erinnere mich sehr deutlich, wie wir in der unglaublichen Fremdheit von Zeit und Raum stehen und stehen. Und wir starren die Fuhrmänner an, sie starren uns an, und dann steigen wir in denselben Bus ein und fahren nach Krakau zurück. Das war im Herbst 1981.
Zwanzig Jahre lang vergaß ich nie diesen kurzen Aufenthalt auf dem Marktplatz in Wieliczka und seine klaustrophobische Stimmung.

Im Sommer 2002 gab mir meine Schwiegermutter alle Briefe zurück, die ich ihr geschrieben habe. „Hier hast du die Chronik eures Lebens” - sagte sie. Ich las sie am 16. November, darunter eine Postkarte (leider ohne Datum und mit einem undeutlichen Poststempel) mit dem Satz: Ich war mit Jakub in der Kirche in Wieliczka und es gibt dort ein sehr schönes Bild vom Heiligen Thaddäus. Ich schrieb den Satz noch am gleichen Tag ab - mit der Bemerkung: Wo steckt diese Erinnerung, in der wir durch die Straßen von Wieliczka schlendern? Vielleicht war es sogar ein angenehmer Ausflug...
Wir mussten also doch ein paar Schritte gemacht haben, eine Kirche besucht, ein Bild bewundert - und dann noch diese Postkarte geschickt! Immer wieder versuchte ich mich daran zu erinnern, aber es gelang mir nicht: Wir bleiben erstarrt bei dem Bus stehen, wechseln feindselige Blicke mit den Fuhrmännern und steigen ohne Zögern zurück in den Bus ein.

Aber vor einigen Tagen habe ich einen Karton geöffnet, der in den letzten zwanzig Jahren immer in den Kellern der aufeinanderfolgenden Wohnungen verschwand. Und dort, neben alten Filmnegativen, Zeitungsausschnitten und Briefen von unseren Freunden, habe ich mehrere Notizhefte gefunden, deren Existenz ich ganz vergessen hatte. Und in einem steht unter genauem Datum - Montag, 26.10.1981 folgender Text:
Schöne Sonne und wir rasten zum Bahnhof, unnötig, weil der Zug nach Wieliczka verspätet kam. Zwei Mal haben wir die ganze Altstadt durchwandert. Das schönste Teil der Kirche, die Kapelle der Familie Morsztyn, als Lager benutzt. Die Stuckarbeit von Baltasar Fontana kann jeden Augenblick herunterfallen, und wird von etwas festgehalten, was an Garn erinnert. Es waren dort drei Restauratoren. Jakub erzitterte beim Klang der Ausbreitung von gewalztem Kupferblech. Das Denkmal von Mickiewicz** wie aus schmutzigem Gips gemacht. „Sargschreinerei” - das einzige Gebäude mit nicht abgefallenem Putz. Und natürlich das Amt, wo wir zwei Stunden verbrachten. Ich war geschockt - und dann, wieder in der Kirche - ganz entmutigt. Es ist nichts für Jakub, nichts für ein drei- und halbjähriges Kind! Er ging auf wackeligen Beinen, und ohne nach Luft zu schnappen, ununterbrochen erzählte über Autos.
Erstaunt habe ich das Ganze Wojtek vorgelesen: Was für ein Amt sollte es sein - warum, wozu? Und er sagte sofort, es konnte nur die Miliz sein, was sonst. Eine Frau aus der Stadt, mit einem Kind, hin und her spazierend, was hat sie hier zu suchen, sicher bringt sie Informationen oder irgendwelche Papiere - und sie haben dich einfach überprüft ...

Das, was mich bisher so sehr interessierte, war mein Gedächtnis. Jetzt sehe ich schwarz auf weiß, wie wenig das Wort „Zeitzeuge” bedeutet. Es passierten damals so viele Geschichten, es war kurz vor dem Inkrafttreten des Kriegsrechts.*** Unruhe kommt aus jeder Seite meiner Hefte, sogar wenn ich immer nur das schreibe, was man eher lyrisches Zeug als ein Dokument nennen könnte, und alles bleibt so undeutlich. Ja, genau - leichter war für mich „die lyrischen Spannungen” zu akzeptieren (und sie darzustellen!), als die Fakten beim Namen zu nennen.
Vielleicht aus diesem Grund geben mir diese eigenhändig geschriebenen Hefte keine vollständige Erinnerung an diesen Tag zurück. Aber warum beharre ich so hartnäckig bei dem Bus und der Bushaltestelle auf dem Marktplatz, obwohl wir mit dem Zug gefahren sind? Was konnte ich auf der Milizwache hören, sehen, dass ich es so tief verdrängen musste? Als mich Wochen später ein junger Milizionär in einer Straßenbahn in Krakau ins Gesicht schlug und bespuckte, habe ich es nie vergessen. War es nicht entsetzlich genug um ebenfalls verdrängt zu werden? Und als ich sieben Jahre später in Deutschland den Führerschein machte und während einer Probefahrt fast in eine Gruppe von Polizisten hineingefahren bin, und mein Lehrer mich beschimpfte und mit dem Idiotentest drohte - was war das?

Ich habe Jakub angerufen, und ohne die kleinste Suggestion von meiner Seite, sagte er: „Es musste Miliz sein“ - obwohl er sich an überhaupt nichts erinnerte. Er lachte und sagte amüsiert: „Jetzt weiß ich, wem ich meinen Verfolgungswahn verdanke, wenn ich nur jemanden in Uniform sehe“.
Soll ich mein behindertes Gedächtnis bedauern? Was bringen Erklärungen, was rechtfertigen sie? Kann ich jetzt sicher sein, dass wir nicht nochmal Wieliczka besucht haben? Bleibt diese kurze Szene auf dem Marktplatz, wo wir und die Fuhrmänner uns gegenseitig mit finsteren Blicken durchbohrten, als die einzig lebendige in meinem Sich-an-etwas-erinnern?

* wir wohnten in einer neu gebauten Plattensiedlung am Rande von Krakau; bis zur kleinen Stadt Wieliczka fuhr man ungefähr 15 Minuten
** der bedeutendste polnische Dichter der Romantik
*** am der 13.Dezember 1981

März 2003

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