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sztaba Über das seltsame Gefühl vom Zeitgleichen

Marcel van Eedens Bilderzählung „Celia“


Marcel van Eeden, Celia, Hatje Cantz, 2006

Celia, eine Ordensschwester, wurde in Afrika von Aufständischen ermordet – gekreuzigt. Der schockierende Bericht stammt aus einem Fragment von T.S.Eliots „Cocktailparty“ (1949), das zusammen mit drei anderen literarischen Zitaten den Textteil der Bilderzählung „Celia“ des Zeichners Marcel van Eeden bildet. Die anderen Fragmente stammen aus Robert Walsers „Spaziergang“ (1917), J. van Oudshoorns „Laatste dagen“ (1927), und Jack Bilbos „An Autobiography“ (1947).

Die schwarzweißen Bilder zeichnet der Künstler mit Kohlestift (in der Regel eine Zeichnung pro Tag). Es sind Darstellungen, die er in dem Bilddepot der Ikonosphäre der Zeit vor seinem Geburt 1965 fand: in Zeitschriften, Illustrierten oder auf Postkarten. Es sind Menschen, Landschaften, Stadtansichten, Straßenszenen, Gegenstände – alles etwas düster, nicht nur wegen der schwarzen Tönung der Kohlezeichnung.

Ein Teil der Bilder ist ausgespart – unten, oben, in der Ecke, als Rechteck oder Kreis – für einen narrativen Text. Die Form dieser Textfelder erinnert an die damalige Typografie der Bildkommentare in illustrierten Zeitschriften.

Die Textfelder sind in diesem Buch aber keine Sprechblasen. Wenn Personen sich auf dem Bild befinden, dann sind es nicht sie, die den Text „sprechen“, denn die Texte kommentieren hier nicht und die Bilder illustrieren nicht – sie sind voneinander unabhängig und ereignen sich simultan. Die Rolle des Textes erinnert hier an ein filmisches Mittel: die Stimmen kommen von außerhalb des Bildrahmens, aus dem OFF. Es ist so, als wenn man eine Szene beobachtet und dabei jemanden eine Geschichte erzählen hört. Diese aus dem Abseits vernommene Stimme gehört zu der virtuellen Tonspur der Erzählung.

Auf die Selbstständigkeit beider Sphären wird man aufmerksam gemacht. Die Sätze in den Textfeldern gehören zwar optisch zum Bild, aber inhaltlich hängen sie zusammen, wie eine Textseite im Buch zu der nächsten, wo, nach dem Trennstrich, die Lektüre weitergeht. In gewisser Weise sind die Bilder Hintergründe für den Text.

Aber auch umgekehrt: Man merkt es bald, dass die Texte keinen direkten Bezug zu den Bildern haben; und, falls man kein Englisch und Holländisch spricht, versteht man große Teile nicht. Das bewirkt, dass man die Texte vor allem als Bildkomponente wahrnimmt, als eine Art „Blindtext“ für die typografische Umsetzung der Wörter auf der Seite.

Im Ausstellungsraum (Kunsthalle Tübingen, 2007) hängen die Bilder der „Celia“-Erzählung in zwei Reihen übereinander, zweistimmig, möchte man sagen. In der Buch-Version scheint die dem Medium verbundene lineare Struktur die Richtung zu bestimmen: Seite nach Seite soll die Lektüre vom Anfang bis zum Ende gehen. Es gibt aber Hindernisse in diesem Textfluss. Die vier Texte in drei Sprachen sind zwar in die Text-Ebene nahtlos eingebettet, aber ihre Folge hat deutliche Risse; sie ähnelt dem Zappen durch Radio- oder Fernsehprogramme. Abrupt schaltet sich eine neue Sendung ein, keine ist vollständig, Sprünge gibt es sogar in Bereich eines Kanals, die Erwartungen auf eine einzige lineare Geschichte sind gestört. Das fehlende „nach“ und „vor“ jedes Fragments wird durch ein anderes Fragment ersetzt, es entsteht eine Text-Collage.

Die Struktur der Collage ist anders als die lineare Struktur einer Erzählung. Der Leser muss zuerst diese lineare Struktur überwinden und sich auf andere Erfahrungen einlassen: die Richtung wechseln, zwischen Texten und Bildern springen, erneut montieren, zusammenbringen, wenden, neue virtuelle Ebenen im Buch schaffen, (wie „nur-Bilder“, „nur-Texte“, „x.-Bilder“, „x.Texte“, „Sequenzen“, „Entsprechungen“, oder „Fußnoten“). Dann erst beginnt die Lektüre, die eigentlich keinen Anfang und kein Ende hat.

Diese andere Leseart kommt mir eigentlich als zum Betrachten eines Bildes sehr ähnlich vor. Wenn wir ein Bild sehen, ist unsere Wahrnehmung nicht linear – es ist eher eine Wanderung durch die Ebenen, darunter auch die virtuellen, die erst im Kopf des Betrachters entstehen.

Zwischen Bildern und Texten entsteht in van Eedens Zyklus eine Art Partnerschaft, die die Souveränität der Mediums nicht verletzt. Als ob ein Text auch mit einem Bild weiter geführt werden könnte und umgekehrt.

Betrachtet man die Bilderreihe, dann merkt man, dass sie nur selten eine geschlossene Sequenz wie im Fall von „Laatse dagen“ ist. Meistens ist das ein Fluss von Bildern, die die zeichnerische Form und die sich wiederholenden Motive verbinden. Man spürt eine Bedrohung und Gefahr, wie in einem alten Schwarzweiß-Krimi. Nachtszenen mit nassen Straßen, einsame Fußgänger und Autos, Stadtansichten und Panoramas, Bahnhöfe, Galerien und Konzertsäle, Kunstwerke, Buch- und Musikhandlungen. Die Gefahr und Gewalt nimmt zu in Bildern von Waffen, Tatortszenen, Kriegschiffen, die in der Nacht feuern, Brandszenen und nicht zuletzt in Abbildungen von Sex-Bildern aus pornografischen Heften.

Das Textfragment von Robert Walser eröffnet die Collage mit einem Lob an die Exklusivität: an diesem Ort, lesen wir, sind nur feine Herren willkommen, man weiß, man spürt, wer sie sind. Dem folgt ein gleichermaßen konservatives Bekenntnis zur Wiederholung als einem noblen Mittel der Kunst, die nicht nach kindischen Neuigkeiten suchen soll. Das Fragment endet mit einer abendlichen Idylle: Schulkinder werden von einem Pfarrer über die Naturschönheit unterrichtet, der Spaziergänger denkt an ein schönes Mädchen. Aber Gedanken an die Einsamkeit und wiederkehrende Vorwürfe trüben die Idylle. Der Text endet im Halbsatz, den Rest findet der Leser später, in einem andern Textfragment.

Es folgt ein Text aus „Laatste dagen“. Ich verstehe Holländisch nicht und habe kein Wörterbuch zu Hause, aber anhand von ein paar Wörtern, die ich zu erkennen glaube, vermute ich, dass es um eine Bilderausstellung handelt. Die Bilder, übrigens, verstärken diese Vermutung, denn sie zeigen Galerie- oder Museumsräume mit alter und neuer Kunst.

Auch dieser Text wird unterbrochen, mit einem Halbsatz auf Deutsch beendet (Walser), und in dem selben Textfeld folgt danach  in dialogischer Form ein auf Englisch geführtes Gespräch zwischen fünf Personen, aus dem der Leser vom grausamen Tod Celias erfährt (Elliotts „Cocktailparty“). Auch dieser Text wird im Halbsatz unterbrochen.

Der nächste erzählt auf Englisch wie zwei Handwerker mit vollem Einsatz eine riesengroße Stein-Skulptur, „Devotion“, errichten. Der Künstler und Autor des autobiographischen Buches berichtet dann über sein Museum eigener Bilder und Skulpturen, das bei den Bewohnern Neid und Unverständnis verursacht hatte.

In demselben Textfeld wird Walsers Geschichte fortgesetzt. Der Spaziergänger sammelt Blumen im Regen, legt sich dann unterm Baum, schlechte Erinnerungen und Selbstvorwürfe bedrücken ihn, er fühlt sich, zwischen Himmel und Erde liegend, dem Grab nah. Das schöne Mädchen aus der Erinnerung weist ihn ab. Er wirft die Blumen weg und geht nach Hause. Es wird dunkel.

Zwei Seiten heben sich durch die zusätzliche rote Farbe auf: es ist die Titelseite, wo das Wort „Celia“ farbig unterlegt ist, und die Seite am Anfang der „Laatste dagen“-Sequenz. Zusammen könnte es einen neuen Titel ergeben: „Celias letzte Tage“. Die Seiten, wo die Nachricht von Celias Tod übermittelt wird, sind typografisch anders gestaltet: die Buchstaben werden größer, isolierte Sätze stehen auf dem schwarzen Hintergrund. Beim Vorlesen wäre das ein dramaturgischer Hinweis. Das nicht anwesende Bild des grausamen Todes geht einem nicht aus dem Kopf .

Ist das ganze Buch also eine Collage über den sinnlosen Tod einer Frau, die als Krankenschwester das Leben anderer retten wollte? In Bildern wird diese Geschichte aber nicht erzählt, und im Text gibt es nur einen kurzen Bericht, nur Andeutungen.

Es könnte aber sein, dass alles was wir sehen und in verschiedenen Sprachen „hören“, in dieser Zeit der „letzten Tage“ geschah. In diesen Tagen „ereigneten“ sich diese Städte- und Straßenszenen, der Regen, die Autos, Kanonenblitze, Menschen, die vor Bildern stehen, in Bücherregalen stöbern, im Konzertsaal sitzen. Alles passierte in diesen Tagen, als Celia starb. Das Nebeneinander bildet kein moralisches Urteil, es ist eher eine Feststellung, die auf die Gleichzeitigkeit hinweist. Man hat doch oft dieses seltsame Gefühl eines „woanders“, das in dem Augenblick genau so real ist, obwohl man selbst nicht dort ist. Jetzt, wo ich hier bin, gibt es doch die Straßen, den Bürgersteig, die Steinplatten, mit den kleinen Details, Rissen, Verfärbungen – in der Stadt, wo ich früher war. Auch wenn ich die Fernsehberichte aus anderen Orten sehe, dann spüre ich manchmal unter dem flachen Bild des Monitors, vielleicht in einem unbedeutenden Detail, die unreduzierte Gleichzeitigkeit einer Welterscheinung, die so real wie meine ist.
Das ist die einzig mögliche „True Story“, die man erzählen kann: über die Gleichzeitigkeit der Sachen und des Geschehens.

Diese „Erzählung“ dehnt Marcel van Eeden auf die Zeit aus, in der er noch nicht lebte. Also, auf die Zeit, in der man nicht da war und nicht da sein wird: vor dem Geburt und nach dem Tod. Diese Zeit gleicht einem entfernten Raum, dessen Existenz man nicht nur begreift, sondern spürt. Es war – es ist – hier und woanders – jetzt und irgendwann. Die Gedankenbrücken führen zu einer Metapher der Ewigkeit. Ein metaphysisches Gefühl wird aus dem Gefühl der Gleichzeitigkeit geboren.

Text & Fotos: Wojciech Sztaba, Juli 2007

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