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PRORA
Eine Ausstellung von Annabel Angus und Jan Zappe,
Orgelfabrik Karlsruhe, 22.05. – 06.06.2010

Jacob Birken: Prora
Damit ein Bauwerk zu einem historischen Ort werden kann, sollte ihm im Idealfall sein eigentlicher Nutzen abhanden gekommen sein. Manchmal ist gerade dieser Nutzen selbst historisch geworden in dem Sinne, dass er nicht mehr der Gegenwart entspricht, und zwischen diesem ursprünglichen Nutzen und dem, was wir heute von einem Gebäude erwarten, sich eine Differenz aufspannt die vor allem etwas über unsere eigene Zeit aussagt: auf eine noch freundliche, vielleicht sentimentale Weise geschieht uns dies als Besucher in dieser ehemaligen Orgelfabrik; als Produktionsstätte ist sie nicht mehr zeitgemäß, das Produkt selbst hat an Relevanz eingebüßt und ebenso die damit verbundene Art handwerklichen Arbeitsbetriebs. Allein im Namen Orgelfabrik schwingt eine Nostalgie mit gegenüber einer Zeit, in der das Fabrizieren von Orgeln keineswegs speziell oder gar wunderlich, sondern ein Teil des Weltbilds war, der nicht einmal hinterfragt werden mußte; aus dieser Nostalgie spricht eine Trauer, aber es ist eine Trauer ganz ohne Tragik, und dass der Begriff „Orgelfabrik“ ohne Bruch, ohne Zusatz als Eigenname eines Kulturortes verwendet werden kann zeugt von dem Wohlwollen, das wir seiner Art der Geschichtlichkeit entgegenbringen.
In Karlsruhe steht noch eine weitere ehemalige Fabrik, noch viel mehr ein historischer Ort als dieser hier: die ehemalige Munitionsfabrik, in der nun das ZKM, die Hochschule für Gestaltung und die Städtische Galerie untergebracht sind. Wenn wir diesen Ort betreten, tun wir es – hoffentlich – ohne Nostalgie; dass dort nun statt Kriegswerkzeug Kunst und Wissen produziert, neue Formen der Kommunikation und Gestaltung erprobt werden, verschafft uns vielmehr einen beruhigenden Abstand, ein Gefühl der Sicherheit, die eigene Gesellschaft von den Schrecken des Militarismus und der Zwangsarbeit befreit zu wissen. Es ist also als Fortschritt zu betrachten, dass der Munitionsfabrik ihr eigentlicher Nutzen abhanden gekommen ist. Ihre Funktion als „historischer Ort“, als ein Mahnmal wider Krieg und Totalitarismus, steht gewissermaßen nur als Phantom im Raum, ohne diesen wirklich einnehmen zu können.
Annabel Angus und Jan Zappe haben in den Räumen dieser ehemaligen Munitionsfabrik studiert, und zeigen nun in diesen Räumen hier Arbeiten, die einen weiteren historischen Ort dokumentieren – oder, besser gesagt, seine Geschichtlichkeit, wie sie sich durch sein Äußeres und Inneres manifestiert; eine Geschichtlichkeit, die zum einen darin absolut zu sein scheint, dass der Verfall und die Verlassenheit sie in einer für uns eindeutig vergangenen Zeit einschließen; eine Geschichtlichkeit, die zum anderen darin symbolisch ist, dass sie als Erzählung verstanden werden kann, auf welche Weise ein Ort Geschichte wird – beinahe, aber immer eben nur beinahe losgelöst von der tatsächlichen Historie des Bauwerks.
Tatsächlich ist das Seebad Prora ein Ort, dessen Geschichte kaum Nostalgie hervorrufen dürfte; ursprünglich durch die Nationalsozialisten als Teil ihres Massenertüchtigungsprogramms geplant, später durch deren Armee und danach durch diejenige der DDR immer nur zwischengenutzt, und seitdem von verschiedenen Parteien mit verschiedenen Plänen provisorisch bespielt – ein Ort, der nicht einmal das Prädikat ehemalig erhalten kann, da ihm sein eigentlicher Nutzen bereits vor der Inbetriebnahme abhandengekommen war. Dennoch darf die ursprüngliche Idee hinter den mehr als viereinhalb Kilometern Stahlbeton nicht übergangen werden, ist sie doch ein nahezu parodistisch treffender Ausdruck der sie hervorbringenden Ideologie, und eine Vorwegnahme der möglichen oder vielmehr unmöglichen Nutzungen in den über siebzig Jahren seit Baubeginn. Diese Idee ist diejenige der Ordnung von Menschen als einer Masse, die ihrer Natur nach vor allem geordnet werden muss; dass es hier um ein Seebad geht, eine Institution, die – so wurde sie auch vermittelt – der Lebensfreude zugeignet werden soll, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Logistik ein Maßstab ist; dies zeigt sich schon darin, dass eine mögliche Umnutzung bereits in der Planung inbegriffen war: „Alles soll so eingerichtet sein, dass man das Ganze im Falle eines Krieges auch als Lazarett verwenden kann“, so die Anweisung des verantwortlichen NS-Ministers Robert Ley. Die Gleichsetzung von Seebad und Lazarett entspricht natürlich dem Menschenbild der Nationalsozialisten, da doch beide Gebäude – ob nun im Frieden oder dem Krieg – das Gleiche leisten: die Wiederinstandsetzung des Körpers, um ihn nach temporärem Ausfall – gewissermaßen einer Abnutzung – wieder seiner Funktion als Arbeiter oder Soldat zuzuführen; der von oben diktierten Umnutzung des Körpers zwischen Fließband und Front entspricht so auch die potentielle Umnutzung der ihn betreuenden Institutionen, und letztendlich ist deren eigentliche Funktionalität gerade in der Verteilung und Ordnung der Menschen zu suchen: Zwanzigtausend Betten, acht baugleiche Hotelblöcke.
Es wäre einfach, den „Koloss von Prora“ so als eine Fehlleistung der Rationalisierung zu sehen, als eine Fortentwicklung der Dienstbarmachung des Menschen nach rein logistischen Kriterien, wie sie ab der industriellen Revolution an der Tagesordnung war. Dies hieße aber, das Wesen des Totalitarismus zu verkennen, dem das Rationale selbst nicht geheuer ist. Der Totalitarismus fordert Effizienz und fordert Werte, die den Einzelnen vergleichbar und somit austauschbar machen; dazu eignet sich die Rationalisierung als Methode. Doch darüber hinaus ist der Totalitarismus ein Modus der Repräsentation, einer ins Fatale potentierten und invertierten Repräsentation, in der ein Staat die Bürger zu Ausdrucksformen seiner selbst gestalten will und sich dennoch als deren Vertreter proklamiert – eine Implosion des politischen Denkens, in der das Kausalverhältnis von Staat und Bürger zu einer Paradoxie, einer Obszönität umformuliert wird. Auch wenn dies in seinen Anfängen noch mit dem Primat der Effizienz verwechselt werden kann, geht es hier vielmehr um ein ins irre laufende Spiel einer absoluten Ordnung um ihrer selbst willen; mit Rationalität hat dies nun nichts mehr gemein, sondern nur noch mit der Simulation einer perfekt geplanten Welt, und so wird im totalitären Staat das tatsächliche Scheitern der Logistik – ob nun militärisch oder ökonomisch – noch im hysterischen Drang münden, die Repräsentation der eigenen Ordnung auf alle Kosten aufrechtzuerhalten. So ist es nach dem bizarren Ansinnen der Nationalsozialisten, das Freizeitvergnügen am Meer formalästhetisch ins Massenornament zu bannen, durchaus plausibel, dass im Anschluss mit der NVA eine Organisation einzog, die ihrerseits auf das heroische Darstellen eines scheiternden Systems spezialisiert war.
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und erst recht heute ist dies für uns alles Geschichte, und angesichts des Gefälles zwischen den megalomanen Ansprüchen der beiden Regimes und der jeweiligen Nutzung der Gebäude möchte man meinen, dass Prora immer bereits nur Geschichte gewesen ist. Den eigentümlichen Schein eines Ortes, der nur war und nie sein wird, finden wir wieder in den Arbeiten dieser Ausstellung. In den Fotografien, in den Objekten, die wir hier betrachten und auch in die Hand nehmen können, stellt sich Prora als ein gewaltiges Objet trouvé vor, das nicht nur von der Überraschung lebt, aus dem Alltag in den Ausstellungsraum gerissen worden zu sein, sondern auch davon, dass es sich gewissermaßen vorausschauend unsere Bildsprache angeeignet hat: Als Monument des Verfalls und des tragischen Scheiterns scheint sich Prora selbst in Szene gesetzt zu haben mit Raumsituationen, Texturen, Licht- und Schattenspielen und aberwitzigen Details, die in sich nicht nur die Spur der Geschichte eines realen Ortes tragen, sondern vor allem die Spuren aller fiktiven Geschichten, wir wir sie in Jahrzehnten inszenierter Fotografie und vor allem Kinematografie aufgesammelt haben – bei Tarkowski, bei den drei Davids Lynch, Cronenberg, Fincher. Auch in Prora herrschte unter den Nationalsozialisten zeitweise Zwangsarbeit, und seine militärische Nutzung macht diesen Ort, in Verhältnis gesetzt zu unsrem eigenen Alltag und seinen ethischen Kategorien, problematisch oder zumindest fragwürdig. Es ist aber gerade das Alltägliche an Prora, das am Unheimlichsten bleibt und zugleich auf die Paradoxien seiner Herkunft aus dem Totalitarismus heraus verweist; als Entgrenzung des Repräsentativen ist der Totalitarismus nicht zuletzt ein ästhetisches Regime, und so wird sich sein Scheitern selbst auch im Umgang mit seinen Räumen ausdrücken – in den Versuchen der Bewohner, dem Moloch der Massenordnung und Massenformung individuelle Räume abzuringen, und die sich als Palimpseste aus Anstrichen und gemusterten Tapeten auf den Wänden ablagern; in den Versuchen, dem Bauwerk notdürftig sanitäre Funktionalität zu verleihen, die dem steten Verfall nur ein stetes Provisorium entgegensetzen kann. So erweist sich der Exzess der Ordnung als unhaltbar, sein Ewigkeitsanspruch als Permanenz der Zwischennutzung und Reparaturbedürftigkeit.
Dieses Motiv des Verfalls ist in unserer eigenen Kultur wohl verankert; auf den Seiten der Stadt Karlsruhe wird selbst in der Beschreibung dieser Orgelfabrik – wohlgemerkt in Anführungszeichen – auf deren „morbiden Charm“ hingewiesen. Annabel Angus und Jan Zappe gehen über diesen Effekt hinaus, indem sie das Kippen des ästhetischen Regimes einer absoluten Ordnung ins Fiktive dokumentieren; besonders prägnant in den Aufnahmen der Fototapeten, die im Inneren des Gebäudes doch nur das reproduzieren, was an dem Ferienort selbst draußen zu sehen ist: die zwanghafte Formalisierung des Lebens subvertiert sogar die Sehnsucht und ihre Bilder, und reduziert sie auf eine leere Referenz. Doch die Romantik, Präkursor der Moderne und der Anti-Moderne zugleich, holt sich ihre Bilder zurück; von gedruckten Blumenmustern und Botanik gleichermaßen überwuchert sehen wir ein Bauwerk, das nur als Ruine, als Gespenst existieren kann; in der bewusst künstlerischen Auswahl der Bilder und Objekte, die mit einer Freilegung der Künstlichkeit des Seebades Prora zusammengeht, finden wir vielleicht die beste Möglichkeit der Darstellung, also der Repräsentation eines Ortes, in dem sich das Regime des Repräsentativen in all seiner Paradoxie selbst manifestiert.

Fotos: Wojciech Sztaba

PRORA
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ein Besuch im modernsten Seebad der Welt
eine Ausstellung von Annabel Angus und Jan Zappe
Orgelfabrik Karlsruhe, 22.05. – 06.06.2010

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