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w.sztaba Notation

 

Ausstellungsansicht

Das schöne Buch zu der schönen Ausstellung, die den schlichten Titel „Notation“ trägt, bringt dem Besucher keine museumspädagogisch adäquaten und klaren Katalog-„Infos“.
Das Buch ist wie die Ausstellung – eine Sammlung, ein Archiv und ein Laboratorium in einem – das zum Benutzen, aber nicht zur Unterhaltung da ist. Man lauscht hier einem Gespräch unter Künstlern und Theoretikern, die diskutierend und erzählend aus der Tasche verblüffende Beispiele vorziehen und darüber staunen: „Ist das nicht wunderbar?“, sagen sie.

Der uneingeweihte Zuhörer würde vielleicht zuerst diese Schönheit nicht erkennen, angesichts der vielen Diagramme, Zeichen, Symbole, Konstruktionsskizzen und Fotodokumentationen, die sich mit Laborgenauigkeit der Aufzeichnung, Beschreibung und Codierung der akustischen und visuellen Phänomene widmen. Es wäre aber eine irreführende Spur, auf der das Labor und seine Attribute zur Kunst deklariert würden. Wichtig ist die Arbeit in diesem Labor schlechthin, das Machen der Kunst.

Der Gedanke, dass sich hinter den Erscheinungen der Welt noch etwas anderes verbirgt, das unter gewissen Umständen in Erscheinung tritt, wird gleichwohl von der Wissenschaft, den Religionen und der Kunst getragen und gespeist. Die Künstler beschwören diese Erscheinungen in Worten, Tönen und Bildern, abstrahierend, symbolisierend oder genau fotografierend, in einzelnen Werken oder, was die Treffgenauigkeit erhöht, in Serien. Und dadurch, dass sie es so machen, erreichen sie es auch. Durch das Machen also, durch die nie aufhörenden Aufzeichnungen.

Ein Vergleich mit einem Alchemie-Buch und einem alchemistischen Labor wäre hier vielleicht nicht sehr abwegig. Ein Buch mit magischen Formeln und Zeichen, die für die nicht Eingeweihten sogar, aus Sicherheitsgründen, unverständlich bleiben sollten. Das ist das esoterische Wissen, das der Weise nur den Auserwählten hinter einem Vorhang erteilt hatte. Mit den sich immer wiederholenden Formeln, wie in einer Gebetsmühle, werden Formen beschwört, bis endlich die Kunst, die Wirklichkeit, das Ersehnte erscheinen – in einer Kunst-Epiphanie.

„Kalkül und Form“ heißt der Untertitel der Ausstellung. Das Kalkül? Die Berechnung, die Überlegung, das Rechensystem für die Kunst? Ja, natürlich, aber es ist ein Kalkül, das in sich ein heißes Verlangen, ein Begehren, einen starken Wunsch trägt. Ein Kalkül eines Besessenen, eines Irren, eines Verliebten, der sich seiner Strategien eiskalt sicher ist. Das Kalkül entsteht aus dem Glauben und benutzt die Formel um die Form zu erreichen.

Immer aufs Neue wird der philosophische Stein geprüft, die Wirkung der Bild-Formeln für das Wahre, Schöne und Gute ausprobiert. Der Künstler stellt die Bilder und die Zeichen in neuen Konfigurationen nebeneinander: Ein nackter Frauenkörper, die Scham, der Laib Brot, das Frauengesicht, zwei Mal ... wirkt das schon?

Kleist wusste es: Es gibt ein Problem in der darstellenden Kunst des Menschen. Die Anmut, die Natürlichkeit, die er anstrebt, wird getrübt durch das Zu-viel-Denken und Zu-sehr-sich-bemühen, anmutig zu sein. Der Mensch scheitert daran, eine anmutige Figur zu wiederholen.
Die unbewusste Anmut der Gesten und Bewegungen der Tiere ist für den Menschen unerreichbar. Es bleibt ihm die Flucht ins Künstliche, wo die perfekte Beherrschung von Maschinen zum Ersatz für das Natürliche wird: Es sind die Puppen eines Marionettentheaters, deren perfekte Bewegungsfiguren den menschlichen viel überlegen sind. Aus diesem Grund hat der Musiker Conlon Nancarrow nur mechanische Musik für ein mechanisches Klavier gestanzt (nicht geschrieben).

Die kleistsche Lehre findet man in der Ausstellung wieder an vielen Beispielen. Nicht zuletzt in den Chronofotografien von Étienne-Jules Marey, die auf Künstler und Theoretiker eine dauerhafte Faszination ausüben, vielleicht deswegen, weil sie die Anatomie der Anmut darstellen, das Natürliche in seine Bestandteile zerlegen, das Unsichtbare sichtbar machen. Die Fotos berühren das Erhabene, man staunt über die Lösung eines Rätsels die keine Lösung ist und das Staunen noch steigert. Wieder ist es eine Epiphanie, die durch das sich Zeigen und die bloße Anwesenheit wirkt.
Dazu gehören auch die unglaublichen Figuren, die Schwärme von Staren in einer Video-Dokumentation auf den Himmel zeichnen - unerreichbare Modelle für die kinetische Kunst, Muster für die sich überschneidenden dynamischen Formen, die wir aus Handbüchern der Kunstgeschichte kennen. Auf einem anderen Video sehen wir die kleistsche These explizit: Eine Frau überquert die Leinwand, wandelt hin und her, scheint nachzudenken, hält an, beugt sich, streckt sich wieder, und plötzlich gefriert eine ihrer Posen zu einem Bild, das neben der gehenden Person als Standbild für eine Weile stehen bleibt – und, man ahnte es, dieser Kunstgriff wirkt anmutiger, natürlicher, expressiver als die reale Frau in ihren Bestrebungen, sich natürlich zu bewegen.

Ein Film, der einen der (Kunst-)Alchemisten bei der Arbeit zeigt, prägt sich besonders ein. Marcel Broodthaers schreibt mit Tinte auf Papier, ungeachtet dessen, dass es in Strömen regnet, dass die Wörter weggespült werden, sobald sie auf dem Blatt erscheinen. Es ist kein absurdes Stück über die Vergänglichkeit der Dinge. Die Worte verschwinden zwar, aber vor allem erscheinen sie doch – wenn auch für einen nicht greifbaren Augenblick - und ändern nur ihre Substanz.

Herausgebracht haben diese Aufzeichnungen zur Notation die Akademie der Künste in Berlin, ein Gremium der Richtungsweisenden und das ZKM, das wichtigste, wie man es oft nennt – Laboratorium der neuen Kunst – eine alchemistische Zusammenarbeit der Gelehrten in einem Laborraum.

Text & Foto: Wojciech Sztaba

„Notation. Kalkül und Form in den Künsten“
ZKM Karlsruhe, 14. Februar bis 26. Juli 2009

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