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The Global Contemporary
ZKM / Museum für Neue Kunst Karlsruhe

In den frühen 80er Jahren versuchte ich in Nigeria den Studierenden die Grundsätze der Kunsttheorie und Ästhetik beizubringen – mit wenig Erfolg, denn die Grundsätze erwiesen sich schnell als völlig inkompatible. Das Wesentliche erschien dann jenseits der Theorie, jenseits vom Schönen und Hässlichen. So, wie in der Seminararbeit einer Studentin über das von Hexen in ihrem Dorf betriebene Unheil. Zur Beschreibung dieser real empfundenen Bedrohung gab es in dem Text keine Illustrationen, aber die Bilder hatte man ohnehin vor Augen, man sah täglich diese seltsamen Objekte – am Buschrand, am Baum, am Gartenzaun, im Fluss. Auch in Nigeria erfuhr ich von einer Erzählstruktur, die die Markt-Storyteller, von denen Mary Kingsley berichtete, praktizierten: sie breiteten ein Netz aus, in dem sich verschiedene Objekte verfingen: ein Objekt - eine Geschichte, die für die Erzählung ausgewählt werden konnte. Auch die aktuelle Ausstellung im ZKM stelle ich mir vor wie ein solches Netz mit zahlreichen Fangstücken: Geschichten und Berichte aus zeitgenössischen Kunstwelten.



Die Ausstellung ist groß, auf zwei Etagen zeigen etwa 100 Künstlerinnen und Künstler ihre Werke – Bilder, Fotografien, Objekte, Installationen, Filme. Die Organisatoren schätzen, dass man ca. 4 Stunden für den Besuch braucht. Dazu müsste man noch ein paar Stunden für die Lektüre der beiliegenden, fast 100-Seitigen Broschüre im Zeitungsformat rechnen. Sie enthält Abbildungen und kurze Texte über alle ausgestellten Arbeiten und ist eigentlich für die Besucher unentbehrlich: sie sagt vor, wie man mit der Ausstellung umgehen könnte, wie man den Zugang zu den Bildern über Worten findet – gegen die immer noch herrschende Meinung, dass die Kunst für sich selbst spräche. Hier aber wird es deutlich: Die Erzählung ist nicht lediglich ein Zusatz, ein Kommentar, sondern gehört zu dieser Ausstellung wie die Allegorese zur Allegorie. Die ganze Ausstellung ist wie ein Buch, das man liest, während man durch die Hallen wandelt. Eine Beschreibung, eine Ekphrasis, die auch danach als Erinnerung weiterlebt. Hans Belting, der erfahrene Kunst-Geschichte-Erzähler schreibt in der Einführung, man möge die Ausstellung wie ein Essay betrachten.

Die Texte im Heft befassen sich nicht, oder sehr wenig mit dem formalen Aufbau der Arbeiten, sie kommen gleich zur Sache und erzählen, was dargestellt ist und worum es geht.
Sehen wir das nicht selbst? Eben nicht. Zum Sehen gehört das Wissen über und die Neugier für das Andere und Unbekannte. Das ist eine der Regeln in der Begegnung mit der globalen Kunst – die Kunst braucht Übersetzung, die aktive Teilnahme, es gibt keine universelle Sprache der Kunst, die Begeisterung der Modernisten für die exotischen und vermeintlich ursprünglichen Formen beruhte auf einem Missverständnis. Überall finden wir in der Ausstellung Bilder, die die Aufmerksamkeit schon wegen der attraktiven Formen wecken, sie erscheinen wie seltsame, surreale Objekte mit unbekannter Funktion. Nur – diese Funktion ist nicht versteckt, sie ist da, man kann sie erfahren und selbst entscheiden, wie die Information in die eigene Lektüre des Werkes eingearbeitet wird, ob daraus ein Dokument, eine Erzählung oder ein Gedicht entsteht.
Man steht vor einer skurrilen und scheinbar absurden hydraulischen Maschine, sie hat den Charme und Schönheit eines auf dem Speicher vergessenen Objekts, dann liest man, sie sei ein Nachbau eines Geräts von 1949 zur Veranschaulichung national-ökonomischer Vorgänge. Oder man sieht einen bunten „Stand“ mit allerlei aus Papier angefertigten Gebrauchsobjekten, die in China als Gaben an die Verstorbenen verbrannt werden; ferner ein Foto von einer halbnackten Indianerin, die um den Hals wie eine Kette sechs USB-Sticks trägt, mit – wie man erfährt – gespeicherten Informationen (12 GB) über die Hilfsprogramme zur Bekämpfung der Armut; oder eine Arbeit aus Deutschland, ein Computerspiel um die tödliche Grenzzone in der DDR-Zeit, das eine Welle der Empörung hervorgerufen hat, weil eben die Spielanleitung nicht genau gelesen wurde.

Wie ein Buch gliedert sich die Ausstellung in acht Kapitel, die dem „Fang im Netz“ eine Struktur geben. Zuerst wird die Geschichte des globalen Kunst-Denkens erzählt, dann in folgenden Kapiteln der Alltag der globalen Kunstpraxis dargestellt, die Weltzeit als Transitzone, die verschiedenen und parallelen Lebenswelten und Bilderwelten, die „Wunderkammer-Optik“ der postkolonialen Denk- und Sichtweise, die Wandlungen des Kunstbegriffs, die Globalisierung als Thema der Kunst, die Infrastruktur des modernen Kunstmarktes. Letztlich wird noch den Menschen ein Kapitel gewidmet, die überall in der Welt der Beschäftigung „Kunst“ nachgehen und Werke schaffen, die wir jetzt versuchen zu verstehen.

Aus dem Fundus der Objekte lassen sich auch andere Geschichten-Stränge erzählen, die quer durch die Kapitel des Buches laufen. Wie die Geschichte von den neuen Hexen und modernen Flüchen. Die Künstler sind misstrauisch, sie waren es zwar immer, aber jetzt suchen sie global nach Gefahren und Bedrohungen, sie decken Diskriminierung, Missstände, Betrug und Machenschaften auf. Oft endet ihre Untersuchung mit einer ironischen Metapher: man kann die Katastrophen wie in einem Computerspiel zwar „abschießen“, aber nicht wirklich beseitigen. Ein leiser Ton der Resignation unterlegt diese Werke. Was uns global verbindet, das sind die Gefühle der Unruhe – der Angst, der Sorge, der Schuld, der Erschöpfung, überall sind sie da, nur die Zeitzonen ändern sich. Oder die Hotelräume, wo Einen das Zeitgeschehen einholt.

Eine andere Geschichte wird über Kunst erzählt: über den Konflikt zwischen Künstlern und den Mechanismen der Kunstwelten mit ihren Märkten, der Event-Kultur und der Markthegemonie, über Unsicherheit, Misstrauen, Enttäuschungen, auch über die Wut der Künstler, die ihren Platz in dem globalen Kunstbetrieb suchen. Immer wieder taucht in diesem Kontext das Wort „hinterfragen“ auf, oft im Bezug der unklaren und parteiischen Kunst-Begriffe, der überholten Ansprüche von nur einer Kunstgeschichte, aus nur einer Region. Welchen Sinn machen denn solche Vergleiche wie „Jasper Johns of Korea“ oder „Renoir of South Africa“?, wem dienen sie? Und die globalen Kopisten? Entwerten sie die Werte? Wer sind die Spieler, wer sind die Figuren? Es scheint, als ob die Künstler aufräumen möchten, um mit der Umwertung der Werte anzufangen. Vielleicht gelingt es ihnen, denn in der globalen Perspektive zeigt sich besonders deutlich, dass Werte nicht relativ, sondern kontextbezogen sind. Und manipulierbar. Das zeigt ein Zähler, der an einem Bild angebracht, die Aufmerksamkeit der Besucher aufzeichnet und sofort in Geld umrechnet. Das demonstrieren ukrainische Bauern, die im Tauschhandel konventionelle Bilder einem Roy Lichtenstein vorziehen, oder thailändische Dorfbewohner, die europäische Bilder auf ihre Weise interpretieren. Weder die Bilder noch die Bauern werden hier ausgelacht, sie sind da, nebeneinander, in der Landschaft, die eine ruhige Kulisse für diese Begegnung bietet.

Ganz am Anfang der Ausstellung erzählt der aus Martinique stammende Dichter und Philosoph Edouard Glissant über die Gefahr des kulturellen Verlusts, über die verlorenen Geschichten, Bilder, Lieder und den heiligen Baum. In einem anderen Raum finden wir den Baum in einer Videoarbeit: auf einem breiten Fluss in Laos fahren schnell schmale Motorboote, in jedem sitzen ein Steuermann und eine Kunststudentin oder ein Kunststudent vor einer Staffelei und versuchen, eine Fluss-Landschaft, die vergeht, zu malen. Plötzlich sieht man einen Baum am Ufer, einen heiligen Bodhi-Baum. Einige der Studierenden springen in den Fluss und schwimmen zum Ufer, die Staffeleien fallen ins Wasser. Nach kurzem Durcheinander fahren die Boote weiter, auch die, auf denen nur der Steuermann geblieben ist.

Die Ausstellung ist nicht abgeschlossen, es kommen noch weiter Werke dazu, weitere Texte, weitere Gedanken. Dieser Essay in Form einer Kunst-Präsentation hat eine eigene Dynamik und ist größer als die Ausstellung selbst.

Wojciech Sztaba, Text und Fotos, Oktober 2011

The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989
Kuratoren: Andrea Buddensieg, Peter Weibel; Co-Kuratoren: Jacob Birken, Antonia Marten
Wissenschaftliche Beratung: Hans Belting
17. September 2011 - 5. Februar 2012
ZKM / Museum für Neue Kunst Karlsruhe
www.global-contemporary.de

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