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André Cadere (1934–1978)

Ausstellungsansicht

In jedem Saal immer dasselbe – bunte, runde Stäbe, mal größere, mal kleinere, in unterschiedlichen, aber sich wiederholenden Maßen, alle in gleicher Weise aus gleich großen Segmenten gebaut, wie aus aufgereihten Glasperlen, in Reihen auf den Boden gelegt, oder an die Wand gelehnt, oder in die Ecke gestellt, oder auf den Türrahmen hingelegt, aber nicht chaotisch, nicht einfach da oder dort gelassen, sondern sorgfältig an den für sie vorbestimmten Plätzen untergebracht.

Also immer dasselbe. Die Größenunterschiede und die wechselnde Anordnung bunter Segmente, ob in begrenzter Farbzahl, ob als ganzer Regenbogen versprechen eigentlich keine Attraktionen und Erlebnisse und trotzdem ist es eine nicht endende Freude, ein Glücksgefühl beim Sehen, beim Verweilen in dieser Ausstellung von André Cadere in der Kunsthalle Baden-Baden, einer der Ersten nach einer langen Pause seit seinem frühen Tod im Jahr 1978.

Zu diesem Bild der Stäbe und Stöcke in den Ausstellungsräumen gehört noch ein anderes, das auf Fotografien und in Filmen aufbewahrt worden ist: Man sieht dort den Künstler, der mit seinem Stab spazieren geht. Denn die Stäbe und Stöcke waren eigentlich nicht zum Ausstellen in einer Galerie bestimmt. Sie wurden vom Künstler zur Schau getragen, er nahm sie mit auf die Straße, in die Pubs, zu Vernissagen anderer Künstler, er ließ sie manchmal irgendwo liegen, er schob sie an Orten fern des geltenden Kunstfeldes unter. Ein Galerieraum war – und ist – ein Aufenthaltsort der Stöcke und Stäbe für die Zeit der Abwesenheit ihres Verwalters, dies bedeutete eine Pause im Gehen und, obwohl ohne den Spaziergänger, dann doch mit ihm im Gedächtnis. Das Bild des einen Stab herumtragenden Künstlers ruft viele weitere Bilder hervor: ein Hirte mit seinem Hirtenstock, oder ein Landvermesser, der die Welt nach einem der Probedruck-Skala ähnlichen Maß absteckt, oder ein Häuptling mit Insignien der Macht, oder ein Führer, ein Pilger, den man an seinem Stock erkennt. Ein König der Kunst, der sein Reich überall dort repräsentiert, wo er sich aktuell befindet. Die Souveränität dieser Handlungen passt gut zu der Ruhe der sich im Galerieraum befindenden Objekte.

Aber es gibt noch ein weiteres Bild, das zu dem Projekt von Cadere wesentlich beiträgt. Der Künstler arbeitete nach einem präzisen Rezept. Nichts in der Produktion von Stäben – nicht einmal der Zufall – wurde dem Zufall überlassen. Die Ausführung von jedem Stab wurde genau festgelegt. Zahlenwerte und ihre Kombinationen, bestimmen, wie eine Metapher des genetischen Codes, die Formen, die Farben, die Maße und die Reihenordnung der Elemente in jedem einzelnen Stab und innerhalb der Serien. Sogar ein Fehler ist für jedes Exemplar vorprogrammiert.

Dieses Bild einer durchprogrammierten Kunst kann man aus zwei Perspektiven betrachten. In den 70er Jahren, also ín der Wirkungszeit von Cadere, war die Erzählung über die Autonomie der Kunst besonders populär: Die Kunstobjekte sind unabhängig von jeglichen Analogien zur Welt und berichten daher nichts über sie selbst. Es ist zwar möglich, die Kunst-Produktion begrifflich zu erfassen – über die Technologie der Stäbe wissen wir schließlich alles – aber damit endet die Beschreibung. Das Geheimnis der Kunst bleibt ein Geheimnis. Es ist unmöglich, die Kunst und die mit ihr verbundenen Erlebnisse beschreiben zu können, es bleibt immer ein toter Winkel, ein Je ne sais quoi, immer muss das Wort vor dem ästhetischen Objekt kapitulieren. Denn der Sinn der Kunst ist in ihr allein beinhaltet. Die Kunst ist kein Ort der Suche nach Bedeutungen, einen solchen Ort bietet die Literatur an. Das Rezept von Cadere wäre also eine Art indirekter Beweis für die Unzugänglichkeit der Kunst für eine Interpretation, die außerhalb nach Bedeutungen und einem Sinn sucht.

Cadere selbst sagt aber, dass „man ein bisschen über den Sinn (seiner Werke) reden kann“. Aus einer anderen Perspektive gesehen ist das Rezept für die Stäbe eine Art alchemistische Formel für die Kunst. Alchemie verbindet Technologie und eine Erzählung, die über Bedeutungen und Analogien berichtet. Die endlose Malerei, wie Cadere sein Projekt der runden Stäbe nannte, ist eine Idee, in der sich die Wiederholbarkeit der Elemente und die Kombinatorik der Formen und Farben im Rahmen des Zahlensystems mit der Idee der Welt verbinden. Die Form und die Struktur des einzelnen Stabs, von jeder Gruppe, von allen Fertiggestellten und auch von diesen, die fertiggestellt sein könnten, fügen sich zu einer Metapher eines Weltbilds, eines Imago mundi zusammen. Zu dieser Bilderfamilie gehören Mandalas, symbolische Körper von Keppler, Bilder von Mondrian, die unendliche Säule von Brancusi oder die Zahlenbilder von Opałka. Jede Arbeit, die ich mache, muss sich, zumindest in einem Punkt, von allen anderen unterscheiden, doch alle sind Teile derselben Konstellation (...) einer ein für alle Mal festgelegten Anordnung. Da alles endlich ist, ist klar, dass die Anzahl der Arbeiten, die ich ausführen könnte, ebenfalls endlich ist, auch wenn es mehr ist, als ich während meines Lebens ausführen kann. (André Cadere, Katalog, Seite 64)

Innerhalb der Erinnerung an die Cadere-Ausstellung bleibt das Gefühl einer überraschenden Begegnung mit einem anderen Raum besonders deutlich. Man trat nicht in einen Raum ein, in dem Kunstwerke einfach zur Schau gestellt wurden, sondern in einen, der offen für Empfang und Aufbewahrung von seltsamen, märchenhaften bunten Objekten war und der gemeinsam mit diesen Objekten zu spielen schien. Zu dem Gefühl der Überraschung kam dann noch das Vergnügen am Hervorrufen immer neuer Assoziationen und auch die Verwunderung darüber, dass so wenig so viel bewirken kann.

Hat diese freudige Stimmung in der Ausstellung mit dem Konzept der Autonomie der Kunst zu tun, in dem sich Kunstobjekte am besten in der Gesellschaft anderer Kunstobjekte fühlen und selbst erklären? Oder entstand diese Stimmung eher infolge der Beschäftigung mit literarischen Analogien, Symbolen und Metaphern der Welt? Vielleicht müssen sich diese zwei Erzählungen über die Kunst nicht gegenseitig ausschließen, wie man behauptete. Vielleicht liegen Kraft und Zauber der runden und bunten Stäbe von Cadere sogar darin, dass sie in unserer Fantasie zwischen einer Metapher und schönen, exotischen Objekten wandeln.

Text & Fotos: Wojciech Sztaba, Oktober 2007

André Cadere, Peinture sans fin
Eine Ausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden, Oktober 2007 - Januar 2008.
Danach auch im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris (Februar-Mai 2008)
und im Bonnefantenmuseum Maastricht (März - Juni 2008).

Zitate nach dem Katalog zur Ausstellung.

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