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  Der Begriff der "Ikonosphäre" ist eine tragende Bezeichnung
für ein ganzes Bündel von Phänomenen aus vielen Bereichen der visuellen Erfahrung. Wir möchten an die Entstehungsgeschichte des Begriffs erinnern, an ein Buch von Mieczysław Porębski, das das Wort „Ikonosphäre“ schon im Titel trägt. Es erschien 1972
in Polen und beeinflusste die nachfolgenden Generationen von Kunstwissenschaftler.

Mieczysław Porębski
Der Begriff der Ikonosphäre

 

fizieren, zu analysieren und im Gedächtnis zu behalten.
Jedes einwirkende oder zum Einwirken fähiges Bild ist eine Tatsache, etwas, was erfüllt und vollbracht ist und seitdem berücksichtigt werden muss. Aber im Gedächtnis des Betrachters-Empfängers ist das Bild nicht ausschließlich eine Tatsache, sondern auch ein Ereignis, das, wenn es schon einmal gewirkt hatte, in ähnlicher, aber nicht unbedingt identischer Weise wieder wirken könnte.

Ereignisse können eintreten oder auch nicht eintreten, einmal erscheinen oder niemals erscheinen, und sich – den jeweiligen Umständen entsprechend mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit - wiederholen.
Fakten werden vollbracht und einmal geschaffen können sie nicht zurück genommen werden. Ereignisse treten ein oder vergehen, kehren wieder oder nicht. Die Fakten bilden die Wirklichkeit, deren Teil, wie eine Art Überzug, die uns zugängliche Ikonosphäre ist. Die Ereignisse bilden ein System. Was nicht bedeutet, dass die Systematik der Ereignisse selbst nicht eine Tatsache ist. Auch sie zeugt auf ihre Art von der Natur der Dinge, die wir erkennen. Sich kumulierende Fakten zeigen die substantielle Beschaffenheit der Welt; die Ereignisse, die sich systematisieren lassen – zeigen ihre Struktur.

Jede Tatsache des Erscheinens des Bildes in der Umgebung des Betrachters-Empfängers, ob dieses ein Fertiges oder ein erst Entstehenden sei, ist von dem Empfänger als Ereignis bestimmten Typs und bestimmter Art klassifiziert; und wird dadurch zur Information, die man auf die durch sie modellierten Bereiche des Objekts, des Subjekts und der Form beziehen kann.

Im Bezug auf den Bereich des Objekts betrachten wir die Bilder als Bilder von etwas, als analoge Zustände der abwesenden Dinge, die durch diese Analogie anwesend werden können - man kann sie simulieren, zeigen, erörtern, voraussehen, sie können unser Verhalten organisieren und unsere Handlungen steuern.

Im Bezug auf den Bereich des Subjekts sehen wir Bilder als jemandes Bilder - als absichtliche und unabsichtliche Spuren und Anzeichen einer aktuellen oder vergangenen Anwesenheit, Handlung oder Intention, mit denen wir noch zu tun haben oder zu tun haben könnten, mit denen wir rechnen und mit denen unsere Handlungen übereinstimmen müssen.

Im Bezug dann auf den Bildern eigenen Bereich der Form schließen wir einigermaßen den Kreis unserer Interessen ab: Wir betrachten die Bilder qualitativ; sie verfügen über eine nur ihnen zustehende Struktur, über eine eigene Symmetrie und Asymmetrie, eine eigene Ausdehnung und Eigenart, eigene Be- und Auszeichnungen. Sie sind verbunden in einem System von bestimmten, deutlichen Kategorien der Morpheme und können dadurch die Zustände der Objekte und Subjekte modellieren. Sie können als flexiblen Stereotypen von Personen und Sachen funktionieren, als konventionell gestaltete Zeichen der Begriffe und Vorstellungen und als Darstellungen der Symbole von Einstellungen und Bewertungen.

Wenn wir die Bild-Fakten als Ereignisse von bestimmten Informationsfunktionen betrachten, dann systematisieren und synchronisieren wir sie im Rahmen eines Sprachsystems, das diese Funktionen, im Rahmen seines Sach-Kodes und subjektiv bedingter Stile erfüllt. Ebenso gut können wir sie auch als Fakten betrachten, die die historischen Veränderungen dieser Kodes und Stile zeigen. Wir können dann die Entfernungen berechnen, die sie in Raum und Zeit voneinander trennen oder sie in einer gemeinsamen, die Verständigung und das Verstehen ermöglichenden Ikonosphäre verschiedener Epochen, Kulturen und Zivilisationen verorten.

Die systematische Einstellung zu Bild-Fakten erklärt ihre Struktur und lässt uns verstehen, wie sie funktionieren. Erst aber die historische Einstellung vermag die Bild-Fakten in Prozesse zu verbinden, sie in ihrer eigenen Substanz zu setzen und auf den wechselhaften Grund der physischen und zugleich gesellschaftlichen Umwelt des Menschen zu beziehen, der Umwelt, die eine unabdingbare Voraussetzung für Entwicklung und Bestimmung jeder Erkenntnisfähigkeit ist.

Die Systematiker interessieren Ereignisse und ihre Synchronie; die Historiker – die diachronisch verlaufenden Prozesse. Wenn der Historiker immer wieder zu den Fakten zurückkehrt, wenn er sie feststellt, überprüft, ordnet und verbindet, kann er nicht nur bei dem systematisch-strukturellen Aspekt der Bild-Fakten bleiben: gleichermaßen interessiert ihn, muss ihn deren Substantialität interessieren, ihre für immer in der Ikonosphäre festgeschriebene – auch wenn verdeckte, verwischte und verschwindende - Anwesenheit.

Deswegen ist für den Historiker die aktuelle und zukünftige Ikonosphäre ein festes Feld der Betrachtung und Untersuchung. Sie bildet die nächste Bezugssphäre zu Dingen und ihrer substantiellen Existenz, wo alles eingeschlossen, alles festgehalten und systematisiert ist: unsere biophysische Konstitution und unsere historische Genese, die Erfahrungen und die Werke, Einbildungen und Entdeckungen, Mythen und Theorien. Sie geht uns voraus und bleibt in unserer Folge; somit begleitet die Ikonosphäre vom Anfang an unsere persönliche und vor-persönliche, gattungsspezifische und gesellschaftliche Existenz. Sie entwickelt und ändert sich mit uns zusammen: zusammen mit unserem ökologischen Habitat – mit seinem Firmament, der Pflanzendecke, mit in seinem Rahmen zusammenlebenden Tiergattungen und mit unserem kulturellen Habitat – mit seinen Zivilisationen, seinem Straßennetz, Siedlungen, mit dem Landbau und der Verwüstungen, mit den Formen des Umgangs und der Verständigung.

Unter diesen Veränderungen gibt es unumkehrbare, wenigstens in der Zeit-Perspektive der aufeinanderfolgenden Generationen: Das sind die klimatischen, demographischen, ökonomischen, sprachlichen und sittlich-sozialen Veränderungen. Es gibt auch solche, deren zyklische Rhythmen und deren Wiederkehr von Generation zur Generation beobachtet und aufrechthalten werden: das Aufeinanderfolgen von Tag und Nacht, von Jahreszeiten, von Arbeiten und Feiern, von Frieden und Krieg, von Revolution und Stabilisation.

Die Ersten, die Unumkehrbaren, erinnern an die unerbittliche Vergänglichkeit von allem, sie drohen mit dem Gespenst der Katastrophe und Vernichtung. Die anderen nähren die Mythen und Utopien, versprechen die Wiederkehr der Großen Zeit, die Wiedergeburt von dem, was es schon gab und geben kann, diesmal aber noch besser und vollkommener. Sie versprechen, wenn auch nicht jedem von uns persönlich, dann wenigsten denen, an deren Zukunft wir arbeiten. Und wenn auch nicht denen, dann wenigstens dem Teilchen von ihnen, die das aufbewahrt, was in dem ganzen Abenteuer der Menschheit das Wichtigste zu sein scheint: die Hoffnung.

Aus dieser doppelten Perspektive sehen wir die unsere gegenwärtige Ikonosphäre, unsere Landschaft, Wege, Städte, Strassen und Siedlungen, die Innenräume, die dem Wohnen, Unterhaltung oder der Konzentration dienen, die Wände der Ausstellungsräume, Buchseiten, Spalten der Zeitungen und Magazine, Kinoleinwände und Fernsehbildschirme, unser Auftreten, unsere Kleidung und unsere Verhalten.

Wir schauen, wir lauschen. Was bringt sie uns, wie verwandelt sie sich, was bewahrt sie, was nimmt sie weg, was verspricht sie?

Ihre besondere Botschaft, die nach einem Platz für sich sucht und der Zeit voraus ist, ist die Kunst. Ihre Stereotypen, Konventionen und Symbole, Zeichen und Veränderungen wurden immer aufmerksam beobachtet, interpretiert und mit einer selten woanders auftretenden Leidenschaft und Besessenheit bewertet.

Und nur zu ihrem Zweck wurde eine ganze eigene Sprache geschaffen, in der wir über Bilder reden – über die visuellen Bilder, über die Klang-Bilder, die Wort-Bilder und auch über ihre Verbindungen mit der einer oder anderen außerbildlichen Wirklichkeit. Das ist die Metasprache der Bild-Sprache – die Sprache der Kritik. Ihr folgt die Sprache, die wir benutzen, wenn wir darüber sprechen, dass wir über Bilder sprechen, dass wir sie erklären, interpretieren, bewerten, dass wir die Bilder auf den einen oder anderen, durch sie gestalteten Bereich beziehen. Das ist die Sprache der Metakritik, die Sprache der Reflexion der Erkenntnis, die über die Zusammenhänge nachdenkt, die zwischen dem Bild und dessen sozialer, verbaler oder nicht verbaler Rezeption entsteht. Diese Sprache wird sowohl von der Theorie verwendet, die Bild-Fakten systematisiert, wie auch von der Geschichte, die für die Bild-Fakten verbindende Prozesse aufdeckt. Und letztlich gibt es die Sprache, die wir benutzen, wenn wir berichten, dass wir darüber sprechen, dass wir über Bilder reden. Das ist die Sprache der methodologischen Reflexion.

Der Tatsachen-Gegenstand der Sprache der Kritik ist allein die Tatsache des Erscheinens des Bildes. Der Gegenstand der Sprache der Metakritik, die die Kunstgeschichte und die Kunsttheorie benutzen, ist auch die Tatsache der Bestätigung des Empfangs, der Interpretation und der Bewertung. Für die Sprache der methodologischen Reflexion ist es wiederum die Tatsache der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem Bild und dessen Interpretation. Die Sprache der Kritik kodifiziert die Bedeutungen, analysiert die Ausdrucksmittel, qualifiziert die Ergebnisse. Die metakritische Sprache der Theorie und der Kunstgeschichte rekonstruiert Kodes, klassifiziert Stile, untersucht Hierarchien und Bewertungskriterien, stellt Verbindungen zwischen künstlerischen und außerkünstlerischen Prozessen fest. Die Sprache der methodologischen Reflexion systematisiert den dabei benutzten begrifflichen Apparat, sie kontrolliert die logische Richtigkeit des Denkens, analysiert dessen Begründung.

Aber alle diese Sprachen, wie hoch auch immer ihr Grad der Abstraktion und der methodischen Entfernung sei, wenden sich um und kehren immer zu dem zurück, was ihre gemeinsame Quelle und ihr Halt ist – zu den Bildern, die, ob wirkliche oder eingebildete, von deren Dingen und deren Verwandlungen auf verschiedene Weise immer wieder aufs neue Zeugnis ablegen.

aus: Mieczysław Porębski, Ikonosfera, Warszawa 1972, S. 271-276
Übersetzt aus dem Polnischen von Jacob Birken.

Mieczysław Porębski (1921 – 2012) – Kritiker, Theoretiker und Kunsthistoriker, einer der wichtigsten Vertreter der polnischen Kultur, Autor vieler Publikationen über die Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, u.a. Granica współczesności (Die Grenze der Gegenwart), 1965, Kubizm, 1966, Pożegnanie z krytyką (Abschied von der Kritik), 1966, Ikonosfera, 1972, Interregnum, 1975, Sztuka i informacja (Kunst und Information), 1986, Tadeusz Kantor, 1997

 
Foto: W. Sztaba 2006
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