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Maciej Jerzmanowski
Der Spaziergang

Spacer


Jacob Birken
Über einen Spaziergang in Krakau 1981

Ein Spaziergang ist zuallererst als Selbstzweck zu verstehen; vielleicht, weil er als Art der Bewegung nicht an seinem Ziel hängt wie der Weg zur Arbeit, ein Wettlauf oder die Erstürmung der Bastille. Im Spaziergang muss das Ziel hinter der Weise zurücktreten, auf welcher der Weg zu ihm zurückgelegt wird; wer Spazieren geht, tut dies vor allem, um die so verbrachte Zeit als bewusst verbrachte Zeit auszuzeichnen, ihr eine über das Zurücklegen der Wegstrecke hinausgehende Bedeutung zu verleihen.
Wenn wir den Begriff der „Bedeutung“ auf den Spaziergang anwenden, heißt das auch, dass der Spaziergang jeweils offen für Interpretation wäre; und letzten Endes würde dies auf die Frage hinauslaufen: Ist der Spaziergang ein Medium? Bietet er Methoden der Ordnung, der Aufmerksamkeit, um eine Zeitspanne zu strukturieren und sie gewissermaßen zu einem Träger von Erfahrung zu machen? Mit dieser Frage möchte ich an eine Arbeit von Maciej Jerzmanowski herantreten, die er Spacer – polnisch für „Spaziergang“ – betitelt hat. Wir sehen Jerzmanowskis Spaziergang hier als Fotos, die inszenierte oder dokumentarische Aufnahmen einer künstlerischen Aktion sind. Vor allem sehen wir aber jemanden, der so gar nicht der üblichen Vorstellung eines Spaziergängers entspricht: In einen weißen Overall gekleidet, mit einer sonderbaren Augenbinde maskiert und – vor allem – einen gut fünf Meter langen, ebenso weißen Stab balancierend zeigt sich der Künstler in der Krakauer Stadtlandschaft um 1980. Das ist keineswegs jemand, der seine Freizeit reglementiert, sondern eine ausgerüstete Person – ein Arbeiter vielleicht oder ein Repräsentant, wenngleich der Beruf oder die dargestellte Funktion oder Institution für uns nicht entschlüsselbar sind; ein Fahnenträger ohne Fahne, ein Stabhochspringer, der nie zum Sprung ansetzt.


Milizpräsidium


Palast der Kunst, Szczepański Platz


Markt am Kleparz Platz


Straßengalerie an der Stadtmauer


Platz der Freiheit

So scheint sein Weg durch die Stadt ein Spaziergang in unserem Sinne zu bleiben; ein Ziel erschließt sich nicht, eine Bedeutung scheint der Bewegung aber innezuwohnen. Diese Bedeutung färbt von den Orten ab, die der Künstler passiert: Wir sehen Jerzmanowski an der Bibliothek, an Ämtern und Denkmalen, an einer Ausstellung des polnischen Malerheroen Stanisław Wyspiański und einer Straßengalerie mit naiver figurativer Malerei vorbeilaufen, oder im Profil vor einem mit Todesanzeigen beklebten Wandstück stehen. Beinahe illustrativ für das Ganze ist eine Aufnahme, in der er sich unscharf im Laufschritt gegen die Fassade des Teatr STU abhebt, an der gerade die Aufführung des Schauspiels „Donkichoteria“ beworben wird; der Künstler mit dem Stecken ist hier der Don Quichotte zu der bröckelnden Rosinante des Reliefs an der Wand hinter ihm. Als alternativer Spielort ist das Teatr STU natürlich gerade so alternativ, wie es die repressive Stimmung im Polen der frühen 80er Jahre erlaubt; und so wird eine Aufführung im Namen des tragisch-idealistischen Ritters zumindest unfreiwillig zu einem Seitenhieb auf die gesellschaftlichen Ansprüche der Künste, die genauso fragwürdig werden wie die anderen Institutionen, an denen Jerzmanowskis Spaziergang vorbeiführt.
Wir könnten diesen Spaziergang als Medienkunst verstehen: Der Künstler nimmt sich des Mediums des Spaziergangs an und untersucht es auf seine Möglichkeiten und Grenzen hin. Dass der unidentifizierbar uniformierte Mann mit seiner Stange letztendlich immer an seinen Orten, also möglichen Zielen vorbeirennt, dass sein Tun gleichwohl Feier wie Protest sein könnte, ist gerade in dieser Absurdität ernst zu nehmen. In seiner einfachsten Definition als ein rein kontemplativer Akt, während dessen den Dingen – und den Spazierengehenden selbst – ihr Lauf gelassen wird, entspricht der Spaziergang als Selbstzweck der Idee des Kunstwerks als eines Objekts der interesselosen Anschauung. So erscheint Jerzmanowskis Spaziergänger tatsächlich frei von Interessen; vor dem Hintergrund der Institutionen der Bildung, des Staates und der Religion auf den Fotos ist er immer nur Passant, nur wie zufällig hervorgehoben durch seine Aufmachung und im fotografischen Moment. Diese Inszenierung und der Akt der Aufnahme sind aber eine bewusste künstlerische Handlung, die die Interesselosigkeit als Trug aufzeigt; denn die Absurdität des Spaziergängers ist selbst nur eine Entsprechung zu der Absurdität der Institutionen, die die Gesellschaft durchdringen und Teilnahmslosigkeit verhindern: die es unmöglich machen, nur unschuldiger Passant zu sein.


November 2010


Słowacki-Theater


Theater STU


Polnische Akademie der Wissenschaften


Akademie für Bergbau- und Hüttenkunde


Maciej Jerzmanowski, geboren 1950 in Krakow. Studierte an der Akademie der Schönen Künste in Krakow (Diplom 1975). In der 70er Jahren war er als Grafiker, Maler und Bildhauer tätig, zeigte seine Arbeiten in Ausstellungen in Polen, Frankreich und Spanien.
In den frühen 80er Jahren unterbrach er seine künstlerische Arbeit.


© Text: Jacob Birken
© Fotos nach Originalabzügen 30 x 40 cm aus dem Archiv des Künstlers
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